Dienstag, 16. Oktober 2012

Demografischer Wandel fordert das Gesundheitswesen heraus


Die vergessene Lektion

Hintergrundinformationen zur Tagung „Hundertjährige sucht Hausarzt“

Ein Plädoyer für eine offene Zusammenarbeit aller Beteiligten gab die Vorsitzende des Seniorenbeirates der Landeshauptstadt Hannover, Monika Stadtmüller, ab. 
Der Verlust von Arztpraxen vor allem in den ländlichen Bereichen und der erhöhte Bedarf gerade an Hausärzten für die Betreuung älterer Menschen macht die Bündelung der Kräfte nötig. 
Sie sprach vor gut 250 Besuchern bei einem Seminar „Hundertjährige sucht Hausarzt - Herausforderungen der ambulanten Versorgung in Zeiten des demografischen Wandels“ im Neuen Rathaus der Stadt Hannover. 
Die Tagung wurde ausgerichtet von der Landesvereinigung für Gesundheit und dem Seniorenbeirat Hannover. 
Zuvor hatte der Tagungsleiter, der Geriater Professor Klaus Hager aus dem Diakoniekrankenhaus Henriettenstiftung, die Situation markiert.

Die Situation ist durchaus dramatisch. 
Immer mehr Menschen werden immer älter. 
Die Zahl der Hochbetagten, der über 90jährigen steigt; die Lebenserwartung der Menschen hat innerhalb von 50 Jahren um 15 Jahre zugenommen. 
Das sind nur teilweise „geschenkte“ Jahre, denn das Alter bringt auch Probleme mit sich, bei denen die Gesellschaft gefragt ist. 
Mit dem Alter steigt das Risiko an Demenz zu erkranken, allein über 34% der über 90jährigen leiden an Demenz. 
Außerdem erkranken die Patienten an mehreren Krankheiten, sie haben Bluthochdruck und eine Endoprothese und kommen ins Krankenhaus mit Prostatakrebs. 
Darüber hinaus bekommen die Senioren im Durchschnitt sechs verschiedene Medikamente, und deren Wechselwirkung muss im Blick sein. 
So ist die Behandlung anspruchsvoller als bei jüngeren, und sie ist aufwendiger, weil viele Senioren nicht mehr in die Praxis kommen können. 
Hausbesuche sind für Hausärzte ein Pflichtprogramm, doch immer mehr ein Luxus aus Sicht der Ärzte, weil ihnen die Zeit dafür fehlt.

Darum sind Ideen gefragt. 
Dr. Cornelia Goesmann, niedergelassene Allgemeinmedizinerin in Hannover und stellvertretende Präsidentin der Bundesärztekammer, stellte einige Modelle vor: Da gibt es das Primararztsystem; ein Arzt oder eine Ärztin übernimmt die Begleitung des Patienten, dort laufen die Fäden zusammen, während die anderen Ärzte die fachliche Kompetenz bieten. Für den ländlichen Raum hat sich das Modell des „mobilen Hausarztes“ angeboten. Er betreut ein Einzugsgebiet aus mehreren Dörfern, in denen er jeweils eine Praxis betreibt, die er zu festgelegten Zeiten belegt. Das ist verlässlich und die Patienten vermeiden lange Wege. Auch eine Vernetzung mit Fachärzten ist möglich, indem sich mehrere Ärzte jeweils umschichtig in den Arztpraxen der Dörfer aufhalten. Dieses Modell kann auch kombiniert werden mit einem Ärztezentrum in einer Kleinstadt und Filialen in Dörfern des Nahbereichs. Da gibt es das Modell der Verlagerung von Routinetätigkeiten auf medizinische Fachangestellte, die entsprechend weitergebildet werden.

Notwendig ist auch eine bessere Versorgung der Altenheime. 
Viele Ärzte auf dem Land beklagen die Einsamkeit in beruflicher Hinsicht. 
Vor allem, wenn Lebensentscheidungen bei einem Patienten getroffen werden müssen, fehlt der kollegiale Austausch. 
Für sie entwickelt die Ärztekammer ein Netzwerk, das eine Ethikberatung in kritischen Fällen vorsieht. 
Wenn es zum Beispiel um die Frage von künstlicher Ernährung einer Hochbetagten im komatösen Zustand geht, dann ist eine solche Ethikkommission hilfreich und sinnvoll.

Andere typische Alterserkrankungen suchen noch nach Lösungen. 
Die zunehmende Gefahr von Stürzen, weil der Gleichgewichtssinn gestört ist oder weil die Rückenmuskulatur geschwächt ist, lässt sich nur vorbeugend behandeln. Dabei ist auch die Kooperation der Betroffenen gefragt. 
Für die Operationen im Alter der Hochbetagten hat die Medizin bereits Methoden entwickelt, die sie schnell wieder mobilisieren. 
Andererseits stellt sich immer wieder auch die Frage nach der Lebensqualität im Alter. 
Das Hilfenetz ist gut aufgestellt, aber es ist undurchdringlich geworden. Von der Haushaltshilfe über das Essen auf Rädern bis hin zu Tagespflege und Tagesklinik ist ein breites Angebot vorhanden. Selbst Sport lässt sich mit speziell geschulten Trainern in vielen Sportvereinen machen. Doch Beratung ist nötig, um die genau passende Hilfe zu bekommen.

Das sehen auch die Krankenkassen. Sie fördern deshalb vor allem alle Lösungen, die bezahlbar bleiben, so Jörg Reytarowski von der AOK in Hannover. Die Patienten möchten kurze Wege zum Arzt haben und im Bedarfsfall auch einen Hausbesuch bekommen. Gegen ein undurchdringliches Netz von Angeboten hilft aus Sicht der Kassen eher die Konzentration. Sie beobachten auch, dass die Zahl der Singlehaushalte zunimmt, womit die Gefahr verbunden ist, keine familiäre Unterstützung und Pflegehilfe mehr zu bekommen. Dies allein durch nachbarschaftliche Kontakte zu ersetzen oder durch Wohngemeinschaften und Mehr-Generationenhäuser ist vermutlich auch nicht die Lösung. Was im Einzelfall helfen mag, lässt sich nicht immer flächendeckend empfehlen. Klar ist auch, dass die Kassen der Kassen nicht alle wünschenswerten Forderungen der Senioren erfüllen können.

Dabei hat die Landesregierung, so Ministerialrätin Cornelia Schütte-Geffers, einige Pilotprojekte gefördert und dabei auch Erfolge erzielt. So ist die Zahl der Hausärzte nicht gefallen, wie man es vermuten könnte, sondern sogar noch leicht gestiegen, während allein die Zahl der Fachärzte stark zugenommen hat. Immerhin haben einige Landkreise Stipendienprogramme aufgelegt, um Studierende der Medizin zur Niederlassung als Hausärzte zu bewegen. Andere Förderprogramme unterstützen die Niederlassung mit Zuschüssen. Aber vor allem die Entlastung der Ärzte und Ärztinnen ist nötig. Dabei helfen berufliche Differenzierungen, aber auch Kooperationen etwa durch Konferenzen zu speziellen Erkrankungen des Alters. Auch die Senioren-Service-Büros können zur Entlastung beitragen, damit die Arztpraxen nicht auch noch alle Lösungen für die Lebensprobleme der Senioren bieten müssen. Hier können alle sozialen Anbieter ein Netzwerk bilden, das vom Besuchsdienst bis zur Freizeitgestaltung das Gefühl vermittelt zu sinnvoller Lebensgestaltung.

Vieles von der geforderten Entlastung ist bereits vorhanden, so Henning Steinhoff vom Verband privater Anbieter von Pflegeleistungen. Denn die ambulanten Pflegedienste übernehmen bereits eine Vielzahl ärztlicher Tätigkeiten. Das gilt etwa für das Messen des Blutdrucks, das Stellen von Medikamenten, das Abholen von Rezepten, die Koordinierung verschiedener Dienste. Das übernehmen bereits die ambulanten Pflegedienste, sodass diese weitere Aufgaben übernehmen könnten. 
Dabei gibt es auch Spezialisierungen; so übernimmt ein Palliativdienst die Gestaltung der Pflege und Versorgung nach einem Krankenhausaufenthalt in der letzten Phase des Lebens; oder ein Kinderpflegedienst ist für die Versorgung dieser Gruppe da. Notwendig ist jetzt eine Kooperation der verschiedenen Dienste dieses Netzwerkes. „Alle Experten sind sich einig, wir brauchen einen Versorgungmix.“ Wie er aussehen soll, muss für die Zukunft entwickelt werden.

Was vermutlich nicht mehr geht für die Lösung künftiger Aufgaben, darauf wies auch wieder Monika Stadtmüller vom Seniorenbeirat der Stadt Hannover hin, ist es in gegenseitiger Konkurrenz zu verharren. Auch vermeintlich einfache Lösungen, wie die mit den schon längst vorhandenen Pflegediensten für die Entlastung ärztlicher Praxen, entpuppen sich bei näherem Hinsehen als problematisch, weil das Qualitätsproblem nicht überall zufriedenstellend gelöst ist. 
Die Senioren und Seniorinnen möchten, so Monika Stadtmüller, im Quartier bleiben, sie möchten am liebsten zu Hause leben und sie möchten, dass sie mit Respekt behandelt und selbstbestimmt bis zuletzt leben können. 
Gesucht werden jetzt kreative Lösungen für die künftige Gestalt des ambulanten Netzwerkes für die gesundheitliche Versorgung. Dabei sollten sich alle öffnen; warum soll es nicht möglich sein, dass Räume in Altenheimen, die barrierefrei gebaut sind, sich für Arztpraxen öffnen, die heute noch in kaum zugänglichen Räumlichkeiten befinden. Und auch die Senioren selbst, sollten ihre Ideen einbringen und ihre Möglichkeiten zu einem gesunden Leben ausschöpfen.
 
Dies ist eine Presseinformation der Henriettenstiftung, kopiert und eingefügt. 

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