Samstag, 6. April 2013

Wie tot ist Stalin wirklich? Erinnerung ist Erinnerung des Wortes



Merkwürdig, dass das Volk so häufig inbrünstig um seine Peiniger trauert. 
So war es in Nord-Korea, so war es bei Stalin. 
Inzwischen wird Volgograd für einige Wochen im Jahr zur "Heldenstadt Stalingrad", seit März 2006 gibt es ein Stalin-Museum, 2009 kam es zu Lobpreisungen Stalins "Er erzog uns zur Volkstreue, inspirierte uns zu Arbeit und Heroismus". Stalin-Kitsch türmt sich allenthalben.
Heute steht Stalin für den Sieg gegen die Deutschen 1945, der aber eigentlich ein Überlebenskrieg war. Und der russische Geheimdienst steht in dieser Tradition.
Stalins Terror-Regierung von 1928 bis 1948 hatte 10 Millionen Todesopfer in der eigenen Bevölkerung, unter ihnen viele Juden. Der russische Antisemitismus wird bis heute oft beschwiegen.
Die Vernichtungsbefehle mit Erschießungsquoten trafen alle gesellschaftlichen Gruppen, besonders die Bauern, die Kulaken (Noch 1918 war Russland ein Bauernland). 
20 Millionen kamen in Lager, 17 Millionen Prozesse mit fingierten Anklagen waren anhängig. Deportationen ganzer Völker, wie der Tschetschenen, fanden statt. 
Stalin war der Täter, der Rest war mal Opfer, mal Täter. 
Ein tiefer Riss ging durch die russische Bevölkerung. Kaum jemand wagte, darüber zu berichten. Lediglich ein Wächter im Gulag hinterließ Aufzeichnungen von 1936 bis 1937, er war ein kleines Rädchen und wurde deshalb von den Schächern übersehen.

Die Perestroika führte nach Ende des Kalten Krieges zum Kollaps des Systems: 1991 zerfiel die Sowjetunion.

Bis heute hat es Russland nicht geschafft, vom Stalinismus wegzukommen.
Präsident Putin: "Problematische Seiten der Geschichte gibt es in allen Ländern. Jedenfalls haben wir keine Atombomben geworfen."

Zu Stalins 60. Todestag veranstaltete die Volkswagenstiftung kürzlich eine Diskussionrunde.
Im Zentrum der Veranstaltung stand Irina Scherbatova von Memorial Moskau, deren Vereinigung wenige Tage später, zusammen mit anderen Nichtregierungsorganisationen, eine Hausdurchsuchung erleiden musste.

Das Buch von Scherbatova: "Zerrissene Erinnerung", auf welchem das  Gespräch mit ihr aufbaute, ist 2010 im Wallstein-Verlag erschienen.

Memorial ist besorgt, denn Stalins Sieg soll jetzt wieder strahlen für Macht, Größe und Orthodoxe Kirche als Ausgleich des Legitimationsdefizits der russischen Regierung mit KGB-Mann Putin an der Spitze. 

Memorial wird bezichtigt, im Auftrag des Auslands zu handeln.


Professor Hans-Heinrich Nolte vom Verein für die Geschichte des Weltsystems, Barsinghausen bei Hannover, diskutierte mit Scherbatova. Mir scheint er der beste Fachmann weit und breit, wenn es um fundierte Auseinandersetzung mit heiklen politischen Sachverhalten geht.
Nolte zum Thema Antisemitismus: 
"In der UdSSR in den Grenzen von 1941  sind von den etwa 5,1 Millionen Juden etwa 2,6 Millionen von Deutschen ermordet worden* und etwa 300.000 als Soldaten der Roten Armee gefallen (anders als die Volksdeutschen wurden die Juden normal zur Armee eingezogen).
Etwa 100.000 jüdische Kinder wurden während des Kriegs geboren, so dass es bei Kriegsende etwa 2,3 Millionen Juden in den Grenzen von 1945 gab. 
Diese Zahl ist bis 197o auf 2,1 Miollionen gesunken, während die Gesamtbevölkerung der UdSSR angestiegen ist, da die Alterstruktur der sowjetischen Juden sehr ungünstig war und  weil die Juden eine fast ausschließlich städtische Gruppe bildeten. 
Wie alle Religionen wurde auch der Mosaismus in der UdSSR verfolgt.
Der stalinistische Antisemitismus hat mehrere Morde auf dem Gewissen und er hat viele Juden um ihre beruflichen Chancen gebracht. 
Man kann vermuten, dass die Vorbereitung der "Ärzteverschwörung" auf sehr viele Opfer zielte, aber eben Ärzte - nichts, was in der Größenordnung mit dem Holocaust vergleichbar wäre, und mit Stalins Tod wurde diese Kampagne ja abgebrochen."

Gewalt zieht heute mehr Menschen an denn je, die von der Korruption der Steuerparadiese und Luxusyachten angeekelt sind. Erinnerung ist Erinnerung des Wortes.

Ingeburg Peters

Infos zu Professor Dr. Hans-Heinrich Nolte

Email: CNolteVGWS@aol.com
Universitätsprofessor Osteuropäische Geschichte Universität Hannover i. R.

Gastlektor an der Universität Wien Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift für Weltgeschichte Werkverzeichnis clio-online, (zuletzt: Weltgeschichte des 20. Jhd., Wien 2009, bei Böhlau; Geschichte Russlands ³ Stuttgart 2012 = Reclam Sachbuch 18960) 

*Il'ja Al'tman: Opfer des Hasses. Der Holocaust in der UdSSR 1941 - 1945, Übersetzung ins Deutsche Gleichen 2008 (Musterschmidt-Verlag) 


Infos zu Memorial: 

MEMORIAL ging aus der in den Jahren der Perestroika entstandenen Massenbewegung hervor. Erste Initiativgruppen gehen bereits auf das Jahr 1987 zurück. Im Jahr 1988 wurde die Gesellschaft MEMORIAL gegründet. MEMORIAL war die erste Massenvereinigung in der Sowjetunion, die nicht aufgrund einer Parteientscheidung entstand, sondern „von unten“. Dazu gehörten nicht nur ehemalige politische Gefangene und ihre Angehörigen, sondern auch viele junge, politisch interessierte Menschen. Der erste Vorsitzende der Gesellschaft war der Atomphysiker und Dissident Andrej Sacharow.

Heute ist MEMORIAL eine internationale Gesellschaft, eine Konföderation von über 80 nationalen und regionalen Organisationen aus neun Ländern (Russland, Ukraine, Weißrussland, Kasachstan, Lettland, Polen, Deutschland, Italien und Frankreich).



Zu den Aufgaben und Zielen von MEMORIAL gehören:

Wiederherstellung der historischen Wahrheit über die politischen Repressionen in der Sowjetunion
Errichtung von Denkmälern, Sammlung und Veröffentlichung von dokumentarischen Quellen, wissenschaftliche Untersuchungen, Ausstellungen, Lehrveranstaltungen in Bildungseinrichtungen, landesweite Schülerwettbewerbe zur Geschichte

Soziale und juristische Betreuung von Opfern politischer Repression und ihrer Angehörigen
Unterstützung bei der Durchsetzung von Entschädigungsansprüchen; medizinische Betreuung und Versorgung mit Medikamenten; Integration alter, allein stehender Menschen in einen gesellschaftlichen Rahmen

Mitwirkung beim Aufbau einer Zivilgesellschaft sowie aktuelle Menschenrechtsarbeit
Öffentliche Stellungnahmen und Aktionen zur Gestaltung eines demokratischen Rechtsstaates, der einen Rückfall in einen totalitären Staat ausschließt; Entsendung von unabhängigen Beobachtern in Konfliktgebiete und Veröffentlichung von Berichten über Menschenrechtsverletzungen (z.B. Tschetschenien); gesellschaftlich-juristische Beratung für Flüchtlinge; Einsatz für den Schutz von politischen Gefangenen

Charakteristisch für MEMORIAL sind die konkrete Hinwendung zu den Opfern und das Engagement für die Demokratisierung der Gesellschaft. Das beinhaltet historische Forschung und Aufklärung vergangenen Unrechts ebenso wie die Dokumentation von gegenwärtigen Menschenrechtsverletzungen.

Web-Site von MEMORIAL International: www.memo.ru (in russischer Sprache) 
sowie in deutsch www.memorial.de





1 Kommentar:

Klaus Öllerer hat gesagt…

Wichtige Thema.
Gut.
Klaus Öllerer