Mittwoch, 27. März 2019

Sag‘ s mit Weizsäcker:



„Atatürk war einer der wahrhaft bedeutenden Staatsmänner unseres Jahrhunderts…Mit Augenmaß und Weitsicht gelang ihm die Revision jenes Vertragswerkes, mit dem der Erste Weltkrieg seinen Abschluss gefunden und das im Herzen Europas so viel Friedlosigkeit und Unheil hinterlassen hatte. Er erreichte für sein Land anerkannte und gesicherte Grenzen und die Regelung des Meerengenregimes zu einem Zeitpunkt, als Europa bereits auf den Zweiten Weltkrieg zutrieb. #Atatürk hat diese Katastrophe scharfsichtig kommen sehen. Ihm ist es maßgeblich zu verdanken, dass die Türkei im Zweiten Weltkrieg eine Oase des Friedens und der Sicherheit blieb…
Für Europa, besonders für uns Deutsche, die wir uns sowohl mit Türken als auch mit Griechen in bewährter Freundschaft verbunden wissen, ist es ein Herzenswunsch, dass es beiden Ländern gelingen möge, wieder zu einem gutnachbarlichen Verhältnis der Verständigung und des Vertrauens zu finden…
Als Atatürk die Verantwortung für die Geschicke seines Landes übernahm, war die Türkei ein rückständiges, feudales, autokratisch regiertes, durch Niederlagen gedemütigtes Land. Als er starb, hinterließ er einen modernen, aufgeklärten, selbstgewissen und geachteten Staat. Die Türkei hatte den Sprung in die moderne Zeit in weniger als einer halben Generation vollzogen. Damit hat sie ein einzigartiges politisches, wirtschaftliches, soziales und kulturelles Entwicklungsmodell geliefert…
In der Großen Türkischen Nationalversammlung steht über dem Präsidium der von Atatürk selbst formulierte Satz: Die Souveränität gehört direkt und unbedingt dem Volk…
Nicht Bekehrung, sondern Überzeugung ist das Fundament der Demokratie. Ein freier Dialog aber kann sich nicht entfalten, wo der Staat sich mit einer bestimmten Ideologie oder Weltanschauung identifiziert und abweichende Auffassungen unterdrückt. Demokratische Politik zielt nicht auf das ewige Heil. Sie will den notwendigen Interessenausgleich für ein erträgliches humanes Zusammenleben im Diesseits sichern.
Das friedliche Zusammenleben kann dadurch gefährdet werden, dass Menschen sich durch die zunehmende Komplexität der technisch-industriellen Zivilisation in ihrer geistigen und religiösen Orientierung verunsichert und gelähmt fühlen. Sie sehen sich in ihrer traditionellen Lebensweise, in ihren Wertvorstellungen bedroht… Dies bedeutet aber nicht, dass die geistigen und religiösen Quellen der Menschen von der technischen Universalkultur verschüttet sind. Es gilt vielmehr, sie beide zu hüten und zu pflegen, ohne sie gegeneinander auszuspielen. Der Demokratie ist eine Diskriminierung nach Geschlecht, Rasse, Glaube oder Herkunft fremd…
Auf dem Weg zur gleichberechtigten schulischen und beruflichen Ausbildung der Frauen hat Atatürk die ersten umwälzenden Schritte unternommen…

Unsere eigene Geschichte und Erfahrung lehrt uns, dass zum inneren Frieden einer Nation das durch Toleranz und gegenseitigen Respekt geprägte Zusammenleben ihrer verschiedenen Volks- und Glaubensgruppen gehört, freilich nicht weniger Treue zur Recht und Verfassung des eigenen Staats…
Die Demokratie muss sich bewähren, wenn es um eine rechtsstaatliche und menschenwürdige Behandlung von Gefangenen in der Untersuchungshaft und im Strafvollzug geht…
Die einzigartige Gastfreundschaft der Türkei gegenüber deutschen Hochschullehrern, die zwischen 1933 und 1945 hier sichere Zuflucht fanden, bleibt ein unvergessliches Beispiel…
Vieles bleibt zu tun. Räumen wir beispielsweise in unseren Bildungseinrichtungen der türkischen Sprache, der türkischen Geschichte und der türkischen Kultur den gebührenden Raum ein? Verkennen wir nicht die spezifische Stellung der modernen Türkei, wenn wir den türkischen Studien immer noch einen Platz innerhalb der Orientalistik zuweisen?...
Lassen Sie mich mit einem Wort Atatürks schließen: „Heute sind alle Nationen der Erde“, so sagte er, „fast Verwandte geworden oder bemühen sich, es zu werden. Infolgedessen muss der Mensch nicht nur an die Existenz und das Glück derjenigen Nation denken, der er angehört, sondern auch an das Vorhandensein und das Wohlbefinden aller Nationen der Welt.“

(aus der Ansprache Bundespräsident Richard von Weizsäcker bei der Verleihung des Internationalen Atatürk-Friedenspreises im Opernhaus in Ankara am 14. Oktober 1987)


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