„Atatürk war einer der wahrhaft bedeutenden Staatsmänner
unseres Jahrhunderts…Mit Augenmaß und Weitsicht gelang ihm die Revision jenes
Vertragswerkes, mit dem der Erste Weltkrieg seinen Abschluss gefunden und das
im Herzen Europas so viel Friedlosigkeit und Unheil hinterlassen hatte. Er
erreichte für sein Land anerkannte und gesicherte Grenzen und die Regelung des
Meerengenregimes zu einem Zeitpunkt, als Europa bereits auf den Zweiten Weltkrieg
zutrieb. #Atatürk hat diese Katastrophe scharfsichtig kommen sehen. Ihm ist es
maßgeblich zu verdanken, dass die Türkei im Zweiten Weltkrieg eine Oase des
Friedens und der Sicherheit blieb…
Für Europa, besonders für uns Deutsche, die wir uns sowohl
mit Türken als auch mit Griechen in bewährter Freundschaft verbunden wissen,
ist es ein Herzenswunsch, dass es beiden Ländern gelingen möge, wieder zu einem
gutnachbarlichen Verhältnis der Verständigung und des Vertrauens zu finden…
Als Atatürk die Verantwortung für die Geschicke seines
Landes übernahm, war die Türkei ein rückständiges, feudales, autokratisch
regiertes, durch Niederlagen gedemütigtes Land. Als er starb, hinterließ er
einen modernen, aufgeklärten, selbstgewissen und geachteten Staat. Die Türkei
hatte den Sprung in die moderne Zeit in weniger als einer halben Generation
vollzogen. Damit hat sie ein einzigartiges politisches, wirtschaftliches,
soziales und kulturelles Entwicklungsmodell geliefert…
In der Großen Türkischen Nationalversammlung steht über dem
Präsidium der von Atatürk selbst formulierte Satz: Die Souveränität gehört direkt
und unbedingt dem Volk…
Nicht Bekehrung, sondern Überzeugung ist das Fundament der
Demokratie. Ein freier Dialog aber kann sich nicht entfalten, wo der Staat sich
mit einer bestimmten Ideologie oder Weltanschauung identifiziert und abweichende
Auffassungen unterdrückt. Demokratische Politik zielt nicht auf das ewige Heil.
Sie will den notwendigen Interessenausgleich für ein erträgliches humanes
Zusammenleben im Diesseits sichern.
Das friedliche Zusammenleben kann dadurch gefährdet werden,
dass Menschen sich durch die zunehmende Komplexität der technisch-industriellen
Zivilisation in ihrer geistigen und religiösen Orientierung verunsichert und
gelähmt fühlen. Sie sehen sich in ihrer traditionellen Lebensweise, in ihren
Wertvorstellungen bedroht… Dies bedeutet aber nicht, dass die geistigen und
religiösen Quellen der Menschen von der technischen Universalkultur verschüttet
sind. Es gilt vielmehr, sie beide zu hüten und zu pflegen, ohne sie
gegeneinander auszuspielen. Der Demokratie ist eine Diskriminierung nach
Geschlecht, Rasse, Glaube oder Herkunft fremd…
Auf dem Weg zur gleichberechtigten schulischen und beruflichen
Ausbildung der Frauen hat Atatürk die ersten umwälzenden Schritte unternommen…
Unsere eigene Geschichte und Erfahrung lehrt uns, dass zum
inneren Frieden einer Nation das durch Toleranz und gegenseitigen Respekt
geprägte Zusammenleben ihrer verschiedenen Volks- und Glaubensgruppen gehört,
freilich nicht weniger Treue zur Recht und Verfassung des eigenen Staats…
Die Demokratie muss sich bewähren, wenn es um eine
rechtsstaatliche und menschenwürdige Behandlung von Gefangenen in der
Untersuchungshaft und im Strafvollzug geht…
Die einzigartige Gastfreundschaft der Türkei gegenüber
deutschen Hochschullehrern, die zwischen 1933 und 1945 hier sichere Zuflucht
fanden, bleibt ein unvergessliches Beispiel…
Vieles bleibt zu tun. Räumen wir beispielsweise in unseren
Bildungseinrichtungen der türkischen Sprache, der türkischen Geschichte und der
türkischen Kultur den gebührenden Raum ein? Verkennen wir nicht die spezifische
Stellung der modernen Türkei, wenn wir den türkischen Studien immer noch einen
Platz innerhalb der Orientalistik zuweisen?...
Lassen Sie mich mit einem Wort Atatürks schließen: „Heute
sind alle Nationen der Erde“, so sagte er, „fast Verwandte geworden oder
bemühen sich, es zu werden. Infolgedessen muss der Mensch nicht nur an die
Existenz und das Glück derjenigen Nation denken, der er angehört, sondern auch
an das Vorhandensein und das Wohlbefinden aller Nationen der Welt.“
(aus der Ansprache Bundespräsident Richard von Weizsäcker
bei der Verleihung des Internationalen Atatürk-Friedenspreises im Opernhaus in
Ankara am 14. Oktober 1987)
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