Dienstag, 12. Oktober 2021

„STOLPERSCHEIBEN“

Bei der Sichtung seiner Schallplattensammlung mit Schlagern, Salonmusik und Kleinkunst der 1920er Jahre machte Bernd Felbermair eine erstaunliche Entdeckung: Die meisten Sänger kommen auf den
Schallplatten ab Mitte der 1930er Jahre nicht mehr vor, auch die Mehrzahl der Orchesterleitungen
nicht.
Man kann es auch so sehen: Viele dieser 90 bis 100 Jahre alten Schallplatten sind die „Stolperscheiben“
für ihre jüdischen Künstlerinnen und Künstler. Wie die Stolpersteine vor den Wohnungen
der Ausgewanderten und Deportierten erzählen sie uns die Geschichte der Künstlerinnen
und Künstler, die nach 1933 fliehen mussten oder ermordet wurden. Sie wurden im NS-Staat durch
uns heute noch geläufige Namen ersetzt.
In zwei Veranstaltungen werden solche Stolperscheiben auf historischen Grammophonen abgespielt.
Zu jeder dieser Schallplatten wird ein Aspekt zum Leben und Werk der dahinterstehenden Menschen und zu ihrem Verbleib nach 1933 (Deutschland) bzw. 1938 (Österreich) dargestellt.
Stolperscheiben – Galante Zeiten
Der erste Abend am 18.11.2021 in der Villa Seligmann öffnet ein akustisches Fenster in eine Zeit des
Umbruchs: altertümliche Galanterie und tabulose Zeitkritik. Zu hören sein werden sog. Refrainsänger
z. B. Leo Monosson und Paul O’Montis. Mit einer nach 1933 verhängnisvollen Satire kommt Max
Hansen zu Gehör:
Hitler und der Sigi Kohn Doch schon bei der fünften Maß
kennen sich seit Jahren schon. werden Hitlers Augen nass.
Eines Tages ging'n se aus Er umarmt den Sigi Kohn und stottert blass:
miteinand’ ins Hofbräuhaus. Warst du schon mal in mich verliebt?
Das ist das Schönste, was es gibt!
(Auszug aus Liedtext von Paul Nikolaus)
Im Rahmen dieser Veranstaltung werden nicht nur bereits veröffentlichte Lebensgeschichten zu den
Künstlern auf den Schallplatten dargestellt. Es wird auch der Prozess der Recherchen zur Person des
Refrainsängers Alfred Strauß und zu seinem Verbleib nach 1933 nachgezeichnet: Der Alfred-Strauß-
Krimi! Die Recherchen fanden für die Veranstaltung „Stolperscheiben“ statt.
Fotomontage: Bernd Felbermair (Label: OTFW)
Stolperscheiben – Noble Zeiten
Der zweite Abend am 25.11.2021 in der Villa Seligmann beschäftigt sich mit den „Klassik-affinen“
jüdischen Unterhaltungskünstlerinnen und -künstlern wie Paul Godwin, Marek Weber vom Berliner
Hotel Esplanade und Edith Lorand, die das Leitbild einer selbstbewussten Frau der 1920er Jahre
verkörpert. Anhand von Schallplatten aus den frühen 1920er Jahren wird der Wechsel vom rein
mechanischen Aufnahmeverfahren zur Aufnahme mit Mikrofon nachvollziehbar.
An diesem Abend steht sowohl die Verzweiflung der ins Exil Getriebenen in dem jüdischen Tango „Ich
hab kein Heimatland“ von Mitte 1933, …
Ich darf nicht glücklich sein. Ich hab‘ kein Heimatland.
Ich kenne keinen Sonnenschein. Ich hab‘ ja nichts auf dieser Welt.
Warum bin ich so ganz allein Mein Ziel ist unbekannt.
auf dieser Erde? Der blaue Himmel ist mein Zelt.
(Auszug aus Liedtext von Friedrich Schwarz)
… als auch eine Perspektive, die sich im jungen Staat Israel für die überlebenden deutschen Unterhaltungsmusiker
bietet. Hierzu erklingt am Ende eine israelische Tangoplatte von 1948. Der Sänger
ist Fredi Dura, ein deutscher Holocaust-Ãœberlebender.
Ein weiterer Schwerpunkt des zweiten Abends ist die Trennung der bis heute bekannten Gruppe
Comedian Harmonists, die je zur Hälfte aus jüdischen und nichtjüdischen Künstlern bestand. Auch sie
wird dokumentiert mit Originalschallplatten.
Die Schallplatten werden auf vier Geräten abgespielt:
1. einem Trichtergrammophon aus der Zeit der Ersteinrichtung der Villa Seligmann um 1911,
2. einem Grammophonschrank, der bereits 1925 mit einem Elektromotor angetrieben wurde,
3. einem Koffergrammophon aus der Zeit der Trennung der Comedian Harmonists und
4. einem Koffergrammophon, das mit einer kriegsbedingten Unterbrechung von 1938 bis
1954 gebaut wurde.
Beide Veranstaltungen finden in der Villa Seligmann, dem Haus der jüdischen Musik, Hohenzollernstraße 39, 30161 Hannover, in Form eines musikalisch belegten
Vortrags und eines anschließenden Salongesprächs statt.
TERMINE
Donnerstag, 18.11.2021, 19:00 Uhr Stolperscheiben – Galante Zeiten
Donnerstag, 25.11.2021, 19:00 Uhr Stolperscheiben – Noble Zeiten

karten@villa-seligmann.de
Konzept und Vortrag
Bernd Felbermair
Bernd.Felbermair@outlook.de
Foto: Bernd Felbermair

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