Es gilt das gesprochene Wort!
85. Sitzung des Niedersächsischen Landtages:
Rede der Niedersächsischen Justizministerin Antje Niewisch-Lennartz Nein heißt Nein! - Ausnahmslos gegen jegliche sexualisierte Gewalt (Drs. 17/4987 - Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen)
„Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung“
„Ja, wir brauchen eine Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung!
Die erschreckende
Situation belegt eine Studie der Europäischen Grundrechteagentur FRA,
die im vorvergangenen Jahr veröffentlicht wurde. Danach hat jede dritte
Frau in Europa seit dem 15. Lebensjahr körperliche
und/oder sexuelle Gewalt erfahren. Eine von 20 Frauen ist seit dem 15.
Lebensjahr vergewaltigt worden. Eine gesetzgeberische Handlungspflicht
ergibt sich schon aus dem von der Bundesrepublik Deutschland
gezeichneten Übereinkommen des Europarats zur Verhütung
und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, die
sogenannte Istanbul-Konvention.
Das am 27. Januar 2015 in
Kraft getretene „Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches - Umsetzung
europäischer Vorgaben zum Sexualstrafrecht“ legt seinen Schwerpunkt auf
den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor
sexueller Ausbeutung und Missbrauch. Das war ein erster wichtiger
Schritt. Er reicht aber nicht aus, um den europäischen Vorgaben zum
Sexualstrafrecht gerecht zu werden. Diese Auffassung haben wir schon
lange vertreten, so bereits im Rahmen des ersten, jetzt
abgeschlossenen Gesetzgebungsverfahren zur Ratifikation der
Istanbul-Konvention. Es besteht weiterer Umsetzungsbedarf, insbesondere
in Bezug auf den Vergewaltigungstatbestand.
Die Istanbul-Konvention
und die Europäische Menschenrechtskonvention verpflichten die Staaten,
zum Schutz der sexuellen Selbstbestimmung alle nicht-einvernehmlichen
sexuellen Handlungen unter Strafe zu stellen.
Dabei soll das fehlende Einverständnis der Betroffenen entscheidend für
die Strafbarkeit sein. Die Strafbarkeit darf insbesondere nicht von
Gewalt durch die Täter oder Gegenwehr der Betroffenen abhängen. Genau
das ist aber nach unserem geltenden Recht der
Fall.
Die Straftatbestände der
sexuellen Nötigung und Vergewaltigung setzen voraus, dass der Täter das
Opfer mit Gewalt, durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder
Leben oder unter Ausnutzung einer Lage, in
der das Opfer der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert ist, zur
Vornahme oder Duldung sexueller Handlungen nötigt. Die Praxis zeigt,
dass diese Straftatbestände nicht alle strafwürdigen Handlungen
erfassen, mit denen die sexuelle Selbstbestimmung des
Opfers verletzt wird. Das muss sich ändern! Neuere Untersuchungen
zeigen zudem, dass bei sexuellen Übergriffen Anzeigen erfolglos bleiben,
Verfahren eingestellt werden und Freisprüche erfolgen. Und zwar nicht
auf Grund einer schwierigen Beweislage, sondern,
weil das Verhalten nach jetziger Rechtslage nicht strafbar ist!
Ich möchte beispielhaft
einige Fallgestaltungen aufzeigen, die in der Praxis nicht als sexuelle
Nötigung nach § 177 StGB geahndet werden.
·
Das Opfer wird überrumpelt, so beispielsweise der
nicht vorhergesehene Griff zwischen die Beine in einer überfüllten
U-Bahn oder am Arbeitsplatz.
·
Ein weiteres Beispiel: das „Herunterreißen“ von
Kleidungstücken für sich allein reicht nicht aus, um eine Zwangswirkung
zu belegen.
·
Ein realer Fall: In einem Strafverfahren wegen
Vergewaltigung hatte der Täter zuvor den Freund seiner Exfrau in deren
Anwesenheit erschossen, diese mit der vorgehaltener Waffe dann
gezwungen, mit ihm zu kommen, und schließlich
in einem Hotelzimmer den Geschlechtsverkehr mit ihr durchgeführt. Noch
unter dem Eindruck des Erlebten ließ die Betroffene den
Geschlechtsverkehr nur deshalb zu, weil sie weiterhin Angst hatte. Der
Täter wurde vom Vorwurf der Vergewaltigung aufgrund fehlender
Zielgerichtetheit der Gewaltanwendung freigesprochen. Es stand in
Frage, ob die Gewalttätigkeiten, die vor dem sexuellen Übergriff
stattgefunden hatten, schon mit der Intention ausgeübt worden sind, eine
sexuelle Handlung zu erzwingen.
·
Oder der Täter, der eine sexuelle Handlung durch
Einsatz einer Drohung erzwingt, die sich aber nicht auf eine
gegenwärtige Gefahr für Leib oder Leben bezieht. So hat der BGH in einem
Fall eine sexuelle Nötigung abgelehnt, in dem
der Täter seiner Stieftochter damit drohte, die Wohnung „kurz und klein
zu schlagen“ und die Mutter zu verlassen.
·
Schließlich noch eine letzte Fallkonstellation:
Betroffene leisten keinen Widerstand, bringen fehlendes Einverständnis
aber klar zum Ausdruck, verbal oder etwa durch Weinen. Dass Opfer keine
Gegenwehr leisten, kann vielfältige
Gründe haben. So zum Beispiel die Furcht vor einem als gewalttätig und
unberechenbar bekannten Mann oder aber die Annahme, dass Gegenwehr den
qualvollen Vorfall nur zeitlich verlängern würde.
Bereits diese - nicht abschließende - Zusammenstellung macht deutlich, dass es Schutzlücken gibt, die wir schließen müssen.
Es ist notwendig, von dem
geltenden zweistufigen Tatbestandsmodell - „erst mit Gewalt oder Drohung
nötigen, dann sexuelle Handlung“ - abzukehren und dies durch ein
„Nein-heißt-Nein“-Modell zu ersetzen.
So findet es sich im
Übrigen auch in dem Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/ DIE GRÜNEN
wieder, der im Juli des vergangenen Jahres in den Bundestag eingebracht
worden ist. Das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung
ist ein Menschenrecht! Es kann nicht sein, dass die sexuelle
Selbstbestimmung aktiv verteidigt werden muss. Nicht die Perspektive des
Täters und auch nicht eine Widerstandsleistung der Betroffenen dürfen
der zentrale Bezugspunkt für eine Strafbarkeit sexueller
Übergriffe sein. Das „Nein“ des Opfers hat im Vordergrund zu stehen! Jede nicht einvernehmliche sexuelle Handlung ist unter Strafe zu stellen!“
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