Samstag, 28. Dezember 2013

Heldenfriedhof - eine Mahnung zum Frieden der Dichterin Marlene Stamerjohanns

Offizierslitze
Am 8. März  besuchte Frau Ka zunächst die Kriegsgräberstätte und dann den HNO Arzt.
Du weißt nicht, wer Frau Ka ist?
Frage ein Kind, es wird Dir sagen: Oh, Frau Ka, das ist doch die, die mir immer Brausepulvertüten schenkt.
Frage einen großen Jungen, er wird Dir sagen: Oh Frau Ka, voll witzig die Alte.
Oder frage den Dorfpolizisten, er wird dir sagen, Oh, Ka, das ist doch die Frau mit dem suchenden Blick. Du findest sie jeden morgen um 9 Uhr auf dem Heldenfriedhof.
Aber niemand würde einem Fremden ihre Geschichte erzählen, weil sie nämlich viel zu lang für eine Kurzgeschichte ist und außerdem auch etwas mit Geschichte zu tun hat.
„Aber wie ist denn das passiert“, fragte der Arzt und schwenkte den Scheinwerfer ins Dunkle.
„Sie haben da nämlich in jedem Ohr ein Loch im Trommelfell.“
Och, sagte  Frau Ka, das war schon immer so.
„Aber wie ist denn das passiert“.
Och, sagte  Frau Ka, da war doch dieses Erdloch, das hatte mein Großvater gegraben, genau zwei Meter mal zwei Meter.
Aber in die Rückwand hatte mein Großvater ein Brett befestigt, da konnte man hinuntersteigen und auch darauf sitzen.
Das hatte mein Großvater genau zwischen 2 Bäume gegraben am Rand von der Tonkuhle.
Dies Loch ist für die Kinder und die Mutter, sagte er, und etwas weiter zwischen den nächsten Bäumen war dieses zweite Loch, genau so groß und auch mit einem Brett, das hatte er für sich und die Großmutter gegraben.
„War das denn im Krieg?“
Vorher hatten wir ein anderes Erdloch, ganz unten in der Tonkuhle.
Da stand eine Baubude, da konnten wir tagsüber drin spielen.
Das kann man vom Tiefflieger aus sehen, sagte der Großvater, und wenn er ein Geräusch hörte, sprangen wir sofort in das Loch.
Die Kinder ganz unten, dann die Mutter, dann die Großmutter und ganz oben ich, sagte der Großvater, wenn sie schießen, treffen sie mich zuerst und ihr könnt überleben, so machen das die wilden Bienen auch hier im Wald, damit nicht das ganze Volk ausgerottet wird, wenn die bösen Waldameisen angreifen.

„Haben sie sich denn dort erkältet?“

Ich hatte keine  Angst vor den bösen Waldameisen und hab mich dann nachts immer hochgehangelt und in der Baubude geschlafen.
Einmal, nachts, wurde auf die Baubude geschossen, da war morgens ein Loch in der Decke.

„Hat es denn da ganz laut geknallt?“

Deshalb hat mein Großvater diese beiden Erdlöcher ganz oben am Waldrand gegraben.
Unter den Bäumen,  da unten waren die Federbetten drin.
„Und haben sie denn da immer im Erdloch gelebt?“
Ich war immer im Wald.
Ich bin immer weggelaufen in den Wald.
Jeden Morgen. Da lagen nämlich ganz viele Soldaten, die lagen alle auf einer weißen Plane mit zwei roten Stoffbahnen drauf.
Alle Soldaten lagen da, nur einer, der stand genau in der Mitte, wo die beiden Bahnen sich kreuzen, der stand immer und trug ein Gewehr.
Du kannst hier aber nicht  bleiben, sagte der Soldat mit dem Gewehr und dann hab ich mich neben die Plane auf den Laubboden gesetzt. Ein Soldat, der da lag, der war auch stark verwundet.
„So so,“ sagte der Arzt , „da haben Sie sich bestimmt erkältet auf dem Laubboden?“

Weißt du was, sagte der Soldat, ich habe nur ein Bein und keine Hände, ich kann mich nicht so gut bewegen.
Das kenne ich schon, sagte ich, ich habe auch schon Soldaten verbunden, zuhause in der Scheune auf dem Heuboden, da hab ich den Soldaten die Schuhe ausgezogen und ihnen die Füße verbunden.
Glaub mir, das war nicht so schlimm, die Füße waren ja noch dran , die sahen bloß ganz bunt aus.
Mach doch mal meinen Tornister auf, und hol da mal was raus, das sieht ganz silbrig aus sagte der Soldat.
Ich holte das Silbrige raus und legte es dem Soldaten auf dem Bauch, er hatte nämlich ein kaputtes Hemd an.
Mach das mal auf, sagte der Soldat, das ist nämlich ein Geschenk, eine Handtasche.
Die hab ich selbst gemacht, aus Soldatenlitze, echter Offizierslitze, die ist eigentlich für meine Schwester, die Tasche.
Weißt du, sagte der Soldat, ich hab nämlich eine kleine Schwester, die ist genau so alt wie du, wie alt bist du denn?
Sieben Jahre, sagte ich.
Meine Schwester wird im März acht Jahre, am 8. März wird sie acht Jahre, und ich wollte ihr die Tasche eigentlich zum Geburtstag schenken.
„Heute haben wir auch den 8. März,“ sagte der Arzt.

Eine echte Theatertasche, weißt du.
Ich werde meine Schwester wohl nicht wiedersehen.
Wieso denn nicht?
Ich hab das so im Gefühl.
Weißt du, sagte der Soldat, du bist jetzt meine kleine Schwester und ich schenke dir jetzt die Tasche.
Du darfst sie aber nicht verlieren und auch nicht verschenken, auch nicht, wenn du groß bist, du musst ganz doll darauf aufpassen. Wenn du groß bist, kannst du sie mit ins Theater nehmen.
Eine echte Theatertasche.
Ich habe den Soldaten dann nicht mehr besucht.
Das war wohl die Angst vor diesem Gefühl, das er hatte.

„Sie haben im rechten Ohr eine richtige Wunde“.
Ich habe dann immer auf dieser Tasche geschlafen im Erdloch mit meinem linken Ohr darauf geschlafen.
Und sie auch am Tag an mein linkes Ohr gehalten.
Bald bekam ich Ohrenschmerzen und das Ohr hat geeitert auf die Tasche.
Da hat meine Mutter mir eine Wollstrickmütze aufgesetzt und Lappen unter die Mütze geschoben.
Ich habe dann die Tasche auf das rechte Ohr gelegt und bekam dann auch Ohrenschmerzen.
Ich wollte sie ja nicht verlieren.
Zuhause, als wir wieder ein richtiges Zimmer hatten, hab ich die Nähte von der Tasche aufgetrennt, da hatte ich eine kleine Decke, nachher habe ich oft eine Kerze darauf gestellt.

„Haben Sie noch nie an eine Haut-Transplantation gedacht?“
Das ist es ja,  ich weiß es nicht, was mit ihm passiert ist, er war doch mein großer Bruder.
Nach dem Krieg bin ich sofort zur Tonkuhle gelaufen.
Da waren rundherum Erdhügel aufgeworfen, in jedem Erdhügel steckte ein Stock und auf jedem Stock steckte ein Helm.
Einen Helm habe ich untersucht, da war innen eine Lederklappe mit einem Druckknopf.
Unter der Klappe lagen Briefe und Karten und  Nummern auf Metall.
Ich konnte den Druckknopf nicht wieder verschließen und bin einfach weggelaufen.
Da waren noch andere Kinder am Waldrand.
Ich hab noch einmal zurück geschaut.
Ich sah die Papiere heraus fallen. Sie wehten über die Erdhügel.
Aber ich bin einfach weggelaufen.
Und die Soldaten sind doch alle umgebettet worden, natürlich ohne Federbetten.
Sie liegen hier auf dem Heldenfriedhof.
Soldaten liegen da, 426 Kreuze, einige sind noch nicht einmal 17 Jahre alt geworden.
Mein Soldat ist nicht dabei.
Aber sieben haben keinen Namen auf dem Kreuz. Und denken Sie, Herr Doktor, einer von den sieben Namenlosen Soldaten könnte mein großer Bruder sein?
„Das ist  doch aber schon über 60 Jahre her und längst Geschichte.
Und Sie können die Wunde an ihrem rechten Ohr so nicht länger offen halten.“

Ja ja, sagte die Frau, eine lange Geschichte, aber sehen Sie, Herr Doktor, Sie sind Ohrenarzt.
Und Sie haben wirklich ein offenes Ohr.

Das ist nun die Geschichte der Frau Ka, und wenn Du sie noch einmal hören willst, Du triffst sie auf der Kriegsgräberstätte morgens so gegen neun.

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